Nun war ich ein paar Tage in Gdansk/ Danzig, der Stadt meiner Großmutter Elfriede Amanda Leiner. Zeit ihres Lebens hat sie von Danzig geschwärmt und dabei mit verträumten Augen lächelnd ins Weite geschaut oder in sich hinein, um ihre Erinnerungen und Bilder durchzublättern.
Nun kann ich die Liebe zu dieser Stadt ihrer Kindheit und Jugendzeit verstehen, und während ich staunend über den „Dlugi Targ“, den „Langen Markt“ und an der Motlawa, der Mottlau entlang zum Krantor schlendere, fühle ich sie bei mir, sie zeigt mir „ihre Stadt“. Nie seit ihrem Tod vor 20 Jahren und wohl auch nie in ihrem Leben habe ich mich ihr so nahe gefühlt. Ich bin mir bewusst, ich laufe als Touristin durch dieses Wunderwerk polnischer Restaurateure, die buchstäblich den „Phönix aus der Asche“ haben erstehen lassen. Ich bewundere, staune, bin dankbar für den unendlich liebevoll detailgetreuen Aufbau dieser schönen, alten Häuserfassaden. Gleichzeitig sehe ich immer wieder diese Stadt mit den Augen meiner Großmutter, die vor 1920 – vor der Zerstörung – hier aufgewachsen ist. Etwa 1943 war sie noch einmal hier, aber im Alter konnte sie ihr Danzig nicht noch einmal besuchen. Ich bedauere das, als ich – in Gedanken mit ihr – durch die Frauengasse, die Mariacka, gehe und versuche, die vielen Stände und Vitrinen mit Bernstein zu ignorieren. Trotzdem – sobald ich eine etwas elegantere, weißhaarige, alte Dame geschäftig über den „Langen Markt“ eilen sehe, denke ich: das hätte sie sein können; vielleicht, um in dem kleinen Geschäft vor dem „Grünen Tor“ etwas „Danziger Goldwasser“ zu besorgen. Diesen Likör hatte sie auch in Bockhorn meistens im Hause.
In Wirklichkeit ist meine Freundin Irmi bei mir. Sie hatte diese Reise organisiert und neben ein paar Tagen Allenstein samt Archivbesuchen auch dieses Wochenende in Danzig eingeplant. Wir wohnen direkt am „Dlugi Targ“, am „Langen Markt“, und direkt dem Rathaus gegenüber in einem „der schönsten Renaissance-Bürgerhäuser“, dem „Dom Schumannów“. Eine großzügige, alte Holztreppe müssen wir hoch in das zweite Stockwerk. Kein Fahrstuhl! Kleine Zimmer mit Bad, aber ein Prinzessinnenbett mit edel rotglänzendem Überwurf, kleinen, dunklen Holztischchen und Kommoden. Auf der niedrigen, breiten Fensterbank kann ich sitzen und das mehrfach geteilte Doppelfenster geöffnet, das Treiben in der „Langen Straße“ und am Neptun-Brunnen vorbei auf dem „Langen Markt“ beobachten. Großstadttreiben! Aber wir haben Glück mit dem Frühlingswetter und können meistens mittendrin und unterwegs sein.
Neben den bekannten Sehenswürdigkeiten wollen wir die Wohnplätze aufsuchen, an denen meine Urgroßeltern vor und nach ihrer Eheschließung gelebt haben, wo auch meine Großmutter aufgewachsen ist, und die Wohnung entfernterer Verwandter, die auch meine Mutter als 12-Jährige noch besucht hat. Unsere detektivische Arbeit begann schon zu Hause am PC, denn wir mussten ja die heutigen Straßennamen herausfinden, die Hausnummern sollen weitgehend geblieben sein. —- Gleich hinter der Marienkirche verläuft die „ulica Szeroka“, die „Breite Gasse“, beginnend an der Rückseite des Krantores, endend am Holzmarkt. Die Nummer 74 ist ein rotes Backsteinbaugebäude wenige Häuser vom Krantor entfernt. Es erinnert mich an eine Schule oder ein ähnlich offizielles Gebäude. War das vor 1900 schon da? Sah es so aus? Hier soll Amanda Nathalie Hilbert aus Lemberg in Westpreussen, meine Urgroßmutter, vor ihrer Ehe gewohnt haben. Hier muss sie auch irgendwo als Verkäuferin gearbeitet haben, denn wegen der Arbeit war sie – wie damals viele junge Leute – vom Land in die Großstadt gegangen. Der „Lange Markt“ ist ganz in der Nähe.
Wir gehen die ul. Szeroka weiter hinunter, dann an der Nikolai-Kirche vorbei, und finden einen kleinen Marktplatz mit Obst-, Gemüse- und Blumenständen und eine Markthalle. Dort kaufen wir unser Mittagessen – Teigtaschen mit Spinatfüllung, „Koteletts“, die keine sind, sondern Bratlinge aus einer Fleischpaste. Wir verzehren unser Mahl auf einer Bank in einer Grünanlage sitzend neben der „Großen Mühle“ – heute Museum – und dem Mühlbach, der Radaune, mit Blick auf einige schwarz-weiße Fachwerkhäuser, die Katharinen-Kirche und links von uns auf das Hochhaus des Mercure-Hotels.
Dann geht´s auf die Suche nach der „Jungstädtischen Gasse Nr. 6“, heute Nowomiesjska. Auf unserem kleinen Stadtplan ist die Straße nicht zu sehen, wir fragen. Straße unbekannt! Eine supernette, russische Familie ist hilfsbereit, die Tochter mit Smartphone setzt ihren ganzen Ehrgeiz darein, die Straße zu finden. Sie findet! – und schickt uns vom Mercure aus in die falsche Richtung und bis wir das merken, sind wir schon fast wieder am Rande der Altstadt. Wir gehen durch kleinere Straßen des Stadtteils Osiek zurück und sehen „normale“ Wohnviertel ohne Tourismus. Wir hätten noch genauer schauen sollen, merken wir später, aber ich habe die zu suchenden polnischen Straßennamen nicht im Kopf.
Wir landen wieder am Mercure und gehen stadtauswärts. Wie weit noch? Taxi? Zu Fuß? Die Taxen sind besetzt, also gehen wir. Plötzlich stellt irmi fest, dass wir auf den Platz „Solidarnosci“ zulaufen. „Oh, das ist interessant!“, ruft Irmi. Ja, allerdings! Mein Urgroßvater war Former auf der Schichau-Werft und wir gehen nicht nur auf das Denkmal zu, sondern auch auf den alten Standort der Schiffswerft von Schichau, auf das Tor 2. Hier hat er gearbeitet! Was ich zunächst als altes Werftgebäude ansah, ist ein Kunstwerk, ein großes Gebäude aus z.T. schräg zusammengesetzten, rostigen Metallplatten, Schiffsbauplatten wahrscheinlich. Das Europäische Zentrum für Solidarität! Davor die Gedenkmauer und das Denkmal für die gefallenen Werftarbeiter 1970 auf dem Platz Solidarnosci, ansonsten ist die Umgebung unwirtlich, geräumt, platt, sandig, Gebäude erst im Umkreis von etwa 300 bis 500 Metern. Aber vor dem Tor 2 gibt es eine Kneipe mit WC. Wir können draußen sitzen, zwar ohne Kaffee – „Hier gibt´s nur Bier!“ – aber mit Wasser. Ich bemühe nun doch das Navigationssystem meines Smartphones – was das russische Mädchen kann, kann ich doch auch – jedenfalls, wenn die Batterie noch länger mitspielt. Ich suche die Nowomiesjska. Wir sind nahe dran, aber es gibt zwei! Ein netter junger Mann – Musikstudent vom Nebentisch – versteht unser Problem, hilft aus und findet die Nr. 6. Versehen mit Hinweisen auf die Musikakademie in einem wirklich alten Stadtviertel und auf Reste des Befestigungsgürtels gehen wir weiter auf die Suche. Wir gehen, gehen zu weit und sehen unter anderem in ein Carré aus alten , roten Backsteinwohnblocks. Schließlich landen wir wieder an dem „unwirtlichen“ Gelände, neben uns ein Plattenbau, das Hotel „Gryff“. „Hier war ich schon mit Google-Streetview, aber hier wollte ich nicht wohnen!“, sagt Irmi.
Und mein Phone zeigt: wir stehen auf der Jungstädtischen Gasse nahe der Nr. 6 und können in dem sandigen Boden die Grundmauern der ehemaligen Bebauung erahnen. Der freie Platz vor uns war was??? Hatte mein Urgroßvater für sich und seine Familie so etwas wie eine Werkswohnung, ganz unmittelbar neben seinem Arbeitsplatz? Tor 2 führte in die ehemalige Schiffswerft von Schichau, es liegt etwa 500 m Luftlinie von unserem Standort, der Wohnung, entfernt.
Ich bin ein bisschen enttäuscht, hier ist also meine Großmutter mit ihren Geschwistern aufgewachsen, aber die Wohnsituation ist für mich nicht mehr sichtbar. Vielleicht – vielleicht standen hier ebenfalls Wohnblocks, wie wir sie vor wenigen Minuten gesehen haben. Vielleicht haben sie auch in so einem Hof gespielt? Vielleicht gibt es noch alte Ansichten von dem Werftgelände?
So könnte in etwa die Bebauung um 1900 ausgesehen haben.
Wir sind langsam müde und gehen Richtung Stadtkern zurück. Dicht am Mercure können wir noch in der Sonne sitzen und einen Tee trinken. Ich bin innerlich noch mit der Jungstädtischen Gasse beschäftigt, aber…“Nun guck mal nach den anderen beiden Adressen!“ Irmi gibt nicht so schnell auf. „Am Stein 16“ hat mein Urgroßvater vor der Ehe gelebt, in der „Stajenna“ in Osiek. Familie Maaser wohnte Spendhaus, Neugasse 5, „Stare Domki“. Gehen wir jetzt noch dorthin? Ja, wir müssen nur über die Radaune, bzw. über den Mühlbach, vor dem wir jetzt sitzen. In dem Viertel waren wir heute schon einmal! „Am Stein 16“ gibt es nicht mehr. Ein großer, neuerer Wohnblock oder eine kleine Grünfläche nehmen den Platz ein. Wenige 100 Meter weiter finden wir die Stare Domki Nr. 5. Das unten verputzte, oben rote Backsteingebäude könnte noch der alte Wohnblock sein, in dem Familie Maaser etwa 1943 für drei Wochen die kleine Wohnung mit dem Besuch aus Bockhorn teilte, meine Großmutter mit ihren Kindern Ruth und Rolf. Meine Mutter erinnert sich zwar an die überaus gastfreundliche Familie, aber nicht an das Wohngebäude, auch nicht, als ich ihr die Photos zeigte, für die meine Batterie dann doch noch gereicht hatte.
Das letzte Photo des Tages mache ich von meinem Essen: Bigos. Wir sitzen in dem hübschen kleinen Restaurant im Keller unter unserem Hotel. Keinen Schritt wollen wir an diesem Abend noch gehen, aber das können wir nicht aushalten. Die Altstadt, Glowne Miasto, abends beleuchtet, das dürfen wir nicht verpassen. Nach einem Spaziergang an der Mottlau landen wir auf dem Langen Markt“. Nur mit Mühe bekommen wir einen Tisch im Freien – um 22 Uhr draußen – Ende April.