Vor ein paar Tagen fiel mir beim Aufräumen eines Regals eine alte Pappe in die Hände, ca. 20 x 40 cm, einseitig bezogen mit völlig vergilbtem, eher fast braunem Papier, übersät mit Stockflecken und einigen kleinen Hinterlassenschaften von Fliegen – und einem Gedicht, geschrieben mit breiter Feder und immer noch pechschwarzer Tinte in einer Schmuck-schrift.
Augenblicklich versah meine Erinnerung das Werk mit einem schmalen, schwarzen Holzrahmen und hängte es in das Wohnzimmer meiner Großeltern Sturhahn und zwar so, dass ich es von meinem Krankenbett aus lesen konnte. Und ich las es, immer wieder. Das war vermutlich gar nicht so leicht, vielleicht eher ein Rätsel, denn ich bin etwa 9 Jahre alt und kenne nur die Druckschrift aus dem Lesebuch der Grundschule. Ich habe Scharlach und um meine jüngeren Geschwister nicht anzustecken, lebe ich sozusagen in Quarantäne bei meinen Großeltern in Bockhorn, und zwar auf dem Diwan im Wohnzimmer mit Blick auf „Hab Sonne im Herzen“ über oder neben der Tür zum Schlafzimmer von Oma und Opa. Rechts neben der Tür steht das alte schwarzgelackte Klavier, auf dem Opa spielen kann. Oma spielt Geige und gerne singt sie auch mit ganz hoher Sopranstimme. Hausmusik gibt es oft: Geige und Klavier, Gesang und Klavier – besonders auf kleinen Familienfesten. Und manchmal kommt Herr Bartsch aus der Schlesiersiedlung mit seinem Cello. Das Kriegsende liegt nur etwa 13 Jahre zurück. Damals wusste ich nicht, was „Schlesiersiedlung“ bedeutet und auch nicht, dass Hausmusik etwas ganz Besonderes und Seltenes ist. Hab nicht nur Sonne im Herzen, sondern auch – 2. Strophe – „ein Lied auf den Lippen…“.
Irgendetwas in meinem Krankenzimmer ist grün, ein gräuliches Schilfgrün – eine gemusterte, gestreifte Tapete? Oder grüngemusterte Gardinen neben den Fenstern? Aber die kann ich nicht sehen, die sind hinter mir und das Tageslicht kann mit den ganz dunkelgrünen, dicken Rollos völlig ausgesperrt werden. Auf dem Klavier ein kleiner Lampenschirm mit grünem Behang aus Glasperlen. Und darüber hängt auch Franz Liszt, ein Druck in schwarzem Rahmen – ein grünliches, schmales Gesicht, ein junges Gesicht, etwas dämonisch kommt er mir vor.
Manchmal schaut Dr. Eßkuchen nach mir und meinem Fieber, ein netter älterer Herr, der Hausarzt meiner Großeltern aus Bockhorn. Ob das überhaupt stimmt? Älter? Für eine 9-jährige sind doch alle Erwachsenen „älter“! „Eßkuchen“ oder „Eskuchen“ – ein merk-würdiger Name! Nachfragwürdig! Meine Großmutter konsultiert ihn oft, sie leidet unter Migräne und benötigt oft Schmerzmittel. Die leeren Dosen, Röhren und Schachteln werden aufbewahrt und mutieren zu meinem Spielzeug. Der große Karton steht unten in einem Regal neben dem Waschbecken und dort liegt auch der Bimsstein, beige-braun-grün mit dunkleren Einschlüssen, geformt wie ein größeres Ei und ziemlich glatt – zum Händewaschen. Ist das schon ein „Badezimmer“? Oder existiert 1958 noch das Plumpsklo ganz hinten links im Haus, wo es mal einen großen Schäferhund gab, an dem ich nicht vorbeigehen mochte zum Klo und zur hinteren Tür nach draußen in Richtung Brunnen mit dem Eimer. Als kleines Kind hab ich Opa mal gerettet, der beinahe mit dem Eimer in den Brunnen gefallen wäre.
Aber jetzt bin ich schon 9 und habe Scharlach und liege 14 Tage lang auf dem Diwan und rette und spiele nicht, sondern lese dieses Gedicht mit der Sonne und lerne es auswendig, so dass ich es sechzig Jahre später noch kann.
Hat es mich damals so beeindruckt? Cäsar Otto Hugo Flaischlen, den Stuttgarter Schriftsteller (1864 – 1920) hätte es sicherlich gefreut. — Erstaunlich, was so ein Text an Erinnerungen hervorzaubern kann!